ÖHV: Österreich bzw. Europa hat diesen Sommer mehrere Hitzewellen erlebt und die Wissenschaft sagt uns, dass die Zahl der sehr heißen Tage weiter steigen wird. Ist bzw. wird die Hitzeproblematik ein Entscheidungskriterium für den Sommerurlaub und „Coolcation“ ein Reisetrend?
R. Rosendorf: Bislang ist die Hitzeproblematik in Zusammenhang mit Urlaub in erster Linie ein Medienthema. In den Zahlen sieht man einstweilen keine signifikante Verschiebung, die sich darauf zurückführen lässt. Einige Urlaubsländer haben in den vergangenen 10 Jahren bei den Nächtigungen ein wenig mehr als andere Länder zugelegt, sind allerdings von einem eher niedrigen Niveau aus gestartet und man findet diese Länder sowohl im Norden als auch im Süden Europas.
Reiseentscheidungen ändern sich selten sofort. Meistens braucht es mehrere Jahre, bis Wahrnehmungen (z. B. Hitze als Problem) tatsächlich zu beobachtbaren Verhaltensmustern führen. Gerade im Tourismus spielt Trägheit eine Rolle: bestehende Gewohnheiten, emotionale Bindungen an Destinationen und Flugangebote wirken stabilisierend. Das schließt nicht aus, dass, auch wenn der Effekt heute noch nicht messbar ist, „Coolcation“ mittelfristig in bestimmten Segmenten an Bedeutung gewinnen kann, z. B. bei Familien mit kleinen Kindern oder unter älteren Reisenden.
ÖHV: Welche Verschiebungen könnte das bei den globalen Reiseströmen bringen?
R. Rosendorf: In den nächsten 10 Jahren könnte es Verschiebungen geben, allerdings lassen sich diese sicher nicht ausschließlich mit Hitze erklären. Da spielen viele Faktoren hinein: Wir sehen seit einigen Jahren steigendes Interesse an Urlaub mit Aktivitäten in der Natur, sei es in den Bergen, sei es am See. Die Leistbarkeit ist und bleibt ein Thema. Ändern sich bei einer Destination die Wahrnehmung des Preis-Leistungs-Verhältnisses, so wird dies Auswirkungen haben. Stabiles Wetter wird laut einer kürzlich veröffentlichten Studie der ETC auch von vielen potenziellen Urlauber:innen in Europa als wichtiges Auswahlkriterium genannt, davor liegt nur noch die gefühlte Sicherheit. Ob die Urlauber:innen allerdings stabil hohe Temperaturen oder stabil mittlere oder niedrige Temperaturen bevorzugen, geht daraus nicht hervor.
ÖHV: Was bedeutet das für den klassischen Sommerurlaub in Österreich? Müssen sich Destinationen wie der Wörthersee Sorgen machen, dass die Gäste der Hitze ausweichen werden?
R. Rosendorf: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt pure Spekulation. Man könnte aber vermuten, dass Destinationen mit Seen, die Gästen Badespaß mit Abkühlung versprechen, auch künftig gute Voraussetzungen haben. Und wie gesagt: Wir Menschen sind mit Verhaltensänderungen recht träge. Das gilt besonders für Stammgäste.
ÖHV: Könnte das auch Auswirkungen auf die Ausstattung der heimischen Hotelbetriebe haben? Wird das Zimmer ohne Klimaanlage bald unverkäuflich?
R. Rosendorf: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Das kommt, wie schon jetzt, auf den Standort und die Bauweise des Hotels an.
ÖHV: Könnte der Klimawandel auch eine Verlängerung der Sommersaison bzw. eine zunehmende Bedeutung der aktuellen Vor- und Nachsaison bringen?
R. Rosendorf: Wir beobachten jetzt schon eine steigende Bedeutung der Nebensaisonen. Der Trend geht zum Ganzjahrestourismus, was eine gute Sache ist. Dies ist aber primär in der demographischen Entwicklung begründet. Urlauber:innen ohne Kinder sind nicht an die Hauptsaison gebunden und können ausweichen. Und davon gibt es immer mehr, entweder, weil die Kinder außer Haus sind oder weil man kinderlos ist. Die Geburtenraten sinken nach wie vor. Auch die Änderung des Nationenmix in Destinationen spielt eine Rolle. Gäste aus Fernmärkten z.B. kommen auch verstärkt in der Nebensaison.
ÖHV: Wenn man kühlere Temperaturen haben will, kann man nur in den Norden (bzw. auf die Südhalbkugel) oder in die Höhe ausweichen. Schlägt jetzt die Sternstunde von Mühl- und Waldviertel? Soll Obertauern sich auf Sommergäste vorbereiten? Bekommen Ski-Orte eine zweite starke Saison dazu? Wird in Österreich bereits mit „kühl“ als Verkaufsargument geworben?
R. Rosendorf: Wenn man für frische Luft, angenehme Temperaturen und Bewegung in der Natur, oder anders ausgedrückt, für „Coolcation“ stehen will, muss man ohnehin jetzt schon damit starten. In 5, 10 Jahren kann das zu einem wirklichen Motiv werden, überhaupt, wenn die Medien das Thema weiter befeuern.
Neben dieser (möglichen) Entwicklung spielt aber sicher noch mehr die Lust auf Urlaub abseits der bekannten Trampelpfade hinein. Ich sehe tatsächlich mehr eine Flucht vor vielen Menschen an einem Fleck als eine Flucht vor Hitze. Dadurch werden die Nebensaisonen und die noch nicht so bekannten Gebiete im Sommerhalbjahr immer attraktiver.
Zur Interviewpartnerin:
Ruth Rosendorf ist Trendforscherin bei der Österreich Werbung
Titelfoto: Julius Silver